Diemelsee-Adorf (51.366116 | 8.793568)

Eigensinn

Eigentümlicher Laubwald auf einer vor über 300 Jahren aufgegebenen Schiefergrube.

 Zwei Männer standen an einer Felswand, zu ihren Füßen das Skelett einer Kuh, und sprachen über ihr Leben als Taugenichts. Sind ungefähr gleich alt. Die beiden hatten sich erst vor einer Stunde kennen gelernt. Nun wunderten sie sich, wie sie auf dieses Thema gekommen waren. Sie wollten eigentlich nur die Schieferkuhle bei Adorf besichtigen. Doch offensichtlich war der Ort nicht nur geologisch interessant. Er brachte sie auf ungewöhnliche Gedanken. Die Männer stellten fest: Ihre beiden Väter hatten nichts von ihren Söhnen gehalten. Taugenichtse wurden sie genannt. Der eine der beiden erlernte verschiedene Handwerke und machte später in der Wirtschaft Karriere. Er sagte: „Mir ist erst im fortgeschrittenen Alter bewusst geworden, dass es immer darum ging, es meinem Vater zu zeigen.“ Der andere wurde Journalist, auch er entdeckte spät, dass ihm der Vater immer im Nacken saß, wenn er schrieb; er heimste Ehrungen für seine Reportagen ein – bis zur totalen Erschöpfung.

 Ich erzähle diese Episode, weil sie zeigt, dass Seelenorte zu ungewöhnlichen Gedanken und Gesprächen inspirieren können. War es in diesem Fall der ungewöhnliche Wuchs der Bäume ringsumher, der uns auf solch existenzielle Themen stieß? Das Geäst der umstehenden Fichten hat sich nach den letzten trockenheißen Sommern hellbraun verfärbt. Weil sie nur flache Wurzeln ausbilden, kommen sie in Trockenperioden nicht an tiefer liegende, feuchte Bodenschichten heran. Sie verdursten. Eine Spezies auf dem absterbenden Ast. Diese Baumart war eigentlich nie heimisch im Sauerland. Sie ist in der Hoffnung auf schnelles Geld gepflanzt worden. Jetzt zeigt sich, dass man zu kurz gedacht hatte.





Weiße Knochen auf dem Waldboden

 Selbst die Kiefern, an Dürre und Durst gewöhnt, leiden sichtbar. Sie krallen sich in den Südhang am Rande der Schieferkuhle. Krüppelig, geduckt, verdreht. Jedes Härtejahr hat ihnen einen Schlag versetzt, und sie ducken und krümmen sich wie ein Kind, das geschlagen wird. Aber sie behaupten sich an diesem Extremstandort, der staubtrocken und starkwindig ihre Hartnäckigkeit auf die Probe stellt. Echte Überlebenskünstler. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass sie jemandem etwas beweisen wollen. Schau her, nichts mit Nichtsnutz, ich halte durch!

 Ich betrete den Graben, die eigentliche Schieferkuhle. Vor einigen Jahren muss eine Kuh abgestürzt sein. Weiße Knochen liegen verteilt am Fuße der Felswand, der Schädel ist bereits mit einer feinen, grünen Moosschicht überzogen. Wie kurz doch Kühe, Menschen und Fichten leben, verglichen mit geologischen Zeitspannen! Vom langen Atem der Erdgeschichte zeugt etwa das grau-braune, sehr zähe Gestein, auf das wir gerade blicken. Flinzschiefer, der seinen Ursprung in dem Ozean hat, den es hier vor Äonen gab. Korallen bauten mit ihren Kalk-Skeletten im Laufe vieler Jahrhunderte unterirdische Gebirge auf: Riffe, die größten von Lebewesen geschaffenen Gebilde auf der Erde. Vor 380 Millionen Jahren erwärmte sich das Wasser, die Korallen starben massenweise, das Riff zerfiel. Seine Kalkschichten wurden unter großem Druck zusammengepresst und im Feuer vulkanischer Eruptionen verbacken.





Baumäste

Im Mittelalter wurde dieser Schiefer abgebaut. Doch die Platten waren dick und schwer, nur in Notzeiten wurden damit Hausdächer gedeckt. Um das Jahr 1600 gab man die Grube wieder auf.

Bevor ich gehe, möchte ich noch einen Seelenverwandten besuchen. Er lebt schon seit 200 Jahren an der Schieferkuhle. Kein Weichei, diese Hainbuche. Und eine Buche ist sie auch nicht, sondern ein Angehöriger der Familie der Birkengewächse. Ihre Rinde hat eine netzartige Oberfläche ausgebildet, so als wäre sie aus dicken, grünlichen Seilen geflochten. Die beiden Hauptstämme verzweigen sich vielfach. Was auf den ersten Blick eigensinnig und vital wirkt, ist in Wirklichkeit eine Überlebensstrategie. Der Baum ist immer wieder von Schafen angeknabbert worden, musste neue Äste ausbilden, um sich zum lebensspendenden Sonnenlicht recken zu können. Noch so einer, aus dem wider Erwarten doch noch was geworden ist. Ich muss lachen – gelöst, befreit. Ein guter Ort, um den alten Beweiszwängen mit Humor zu begegnen.

Autor: Michael Gleich

Ein guter Ort, um den alten Beweiszwängen mit Humor zu begegnen.

Michael Gleich

Die Schieferkuhle erreichen Sie am besten vom:

Start: Wanderparkplatz Dorfmitte Adorf

Der Beschilderung Diemelsteig folgen

Weitere Infos erhalten Sie über die Tourist-Information Diemelsee: Tel: 05633-91133, E-Mail: info@diemelsee.de





Seelenort Adorfer Klippen
Seelenortwanderung am Diemelsee: Adorfer Klippe - Das innere Kind
Schwierigkeit: Mittel | Strecke: 5.9km | Dauer: 1:35h | Aufstieg: 203m | Abstieg: 203m
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