Eine literarische Reportage von Michael Gleich

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VERORTUNG

Zurück. Nach vorn.

Mit 19 bin ich weggegangen aus dem Sauerland. Vor einiger Zeit ergab sich überraschend die Möglichkeit, über besondere Orte im Sauerland zu schreiben. Seelenorte. Es sollte um Orte gehen, die für die Einheimischen bedeutsam und für Besucher erlebbar sind. Um deren spirituelle Ausstrahlung, unabhängig von Konfession und Glauben. Ich traute meinen Ohren nicht: Seelenorte? Eine ganz andere Form von Wandern, als ich sie aus meiner Kindheit kannte? Offene Spiritualität im katholischen Sauerland? Ich war gleichermaßen skeptisch wie neugierig.
Der nächste Gedanke: Was für eine tolle Chance, meine Heimat ganz neu zu erleben! Sie zu begehen mit anderem Blick. Sie zu erforschen mit alter Vertrautheit und frischen Fragen. Außerdem ähneln sich die Betrachtungsweisen des ›Exil-Sauerländers‹, der in Berlin lebt, und die der Wandertouristen aus der Stadt. Beide glauben, diese Mittelgebirgslandschaft und die Menschen darin zu kennen. Beide könnten überrascht sein, was sie jenseits von Klischees entdecken. Könnte also passen. Ich mache mich auf die Reise. Zurück. Nach vorn.

Der Erzähler

Michael Gleich, geboren 1960, aufgewachsen in
Oberhundem (Gemeinde Kirchhundem), lebt in
Berlin und arbeitet als Journalist, Buchautor und
Moderator. Er ist begeisterter Wanderer und
praktizierender Meditierer.

 

Geburt - Die 1. Etappe
Es ist still. Jetzt um die Mittagszeit scheinen die Singvögel zu schläfrig für Konzerte zu sein. Der frische Duft von Wasserminze begleitet mich, Sträuße von Mädesüß lassen die Luft nach Honig und Vanille schmecken. Von Süden kommend wandere ich durch das schluchtartige Mühlental. Auf Alme zu, ein Dorf in der Nähe von Brilon, an der nördlichen Grenze des Sauerlandes. Keine Mühle ist zu sehen, die dem Tal den Namen gab, kein Bach, nach dem das Dorf benannt wurde. Auf der Suche nach der Quelle folge ich einem trockenen Bachbett, das in sanft en Kurven nach Norden führt. Meine Idee von Quelle sieht so aus: Da gibt es eine kleine Mauer, heraus lugt ein Wasserspeier, dessen dünner Strahl in ein Becken fließt, darüber das Schild ›XY Quelle‹.

Hinter einem der Mäander erlebe ich etwas, das meine Vorstellungen komplett über den Haufen wirft . Erst zeigt sich ein Schimmer, der die grauen Steine silbern färbt. Dann glitzert es stärker, überall ein Rinnen und Rieseln, ohne dass etwas zu hören wäre, als hätte jemand den Ton abgedreht. Nur zwei, drei Schritte weiter wird das Wasser quirliger. Luft bläschen drängen wie Perlenschnüre von unten herauf und kräuseln in kleinen Kreisen die Oberfl äche. Wahrlich, diese Quelle sprudelt.
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Leben - die 2. Etappe
Hinter diesem Eisentor bestimmt höhere Gewalt über Leben und Überleben. Ein Ort der Gefahr, das ist spürbar, als ich durch das Tor trete, das Siegfried Stahlmecke aufgeschlossen hat. Der Berg will uns nicht. Noch bevor wir sein Reich betreten, bläst er zum eiskalten Widerstand. Während sich draußen der April mit milden 24 Grad einschmeichelt, fegen uns aus dem dunklen Gang Winde mit gefühlten Nullgraden entgegen. Meine Ohren, die unter dem roten Helm hervorlugen, frieren wie im Winter. Der Kies unter den Schuhen knirscht. Der Stollen ist niedrig, wir laufen gebückt, mit eingezogenen Köpfen. Schweigend dringen wir immer tiefer in den Stollen ein. Auf den ersten Metern ist buchstäblich fühlbar, wie hart sich die Bergleute vor 250 Jahren in die Tiefe gekämpft haben. Mit Hammer und Schlägel, das lesen meine Finger an der schroffen Oberfläche ab, haben sie sich vorgearbeitet. Manchmal haben sie nur zehn Zentimeter am Tag geschafft . Die Lichtkegel der Taschenlampen enthüllen, wie farbig der Fels links, rechts, über uns ist. Satt rostrot, vom Eisenerz. Gelblich, wenn der Anteil von Schwefel hoch ist. Beige, wenn ausgeschwemmter Sand über Jahrmillionen eingebacken wurde. Ausgehärtete Salze weißeln die Wände. Das überall herabrieselnde Wasser lässt sie glänzen.
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Abschied - die 3. Etappe
Dieser Friedhof ist quicklebendig. Seine Umfassungsmauer mit ihren Spalten und Nischen ist für Moos und Mauerraute, Habichtskraut und Storchenschnabel bereits zum Biotop geworden. 300 Jahre alte Linden stehen wie andächtig im Kreis. Ein Feuersalamander kriecht in Zeitlupe zu seinem Platz an der Sonne, die erste wärmende Strahlen schickt. Sie verlängert die Holzkreuze, die in fein abgezirkelten Reihen stehen, um lange Schatten. Jetzt, bei Sonnenaufgang, wird augenfällig, dass alle Gräber nach Osten ausgerichtet sind. Sie liegen nicht auf einem Gottesacker außerhalb des Dorfes, sondern direkt neben der Kirche. Die Toten und die Lebenden sind Nachbarn. Vom benachbarten Kinderspielplatz dringt fröhlicher Lärm herüber. Bäcker Rittmeier hat die Brötchen fertig, ein Duft , mit dem man Tote erwecken könnte. Schlichte Eleganz auf den Gräbern: Einst beendete der Pfarrer von Wormbach den Schönheitswettbewerb, welcher Bauer den dicksten Grabstein habe. Seitdem stehen einfache Holzkreuze und jeder, ob arm oder reich, hat sich einzureihen. Vor dem Tod sind alle gleich.
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Wandel - die 4. Etappe
Wieder auf einem Friedhof. Diesmal mitten im Wald. Am Morgen des 19. Januar 2007 türmten sich hier die Baumleichen bis zu zehn Metern hoch. Sie lagen kreuz und quer über einander. Umgelegt von jemandem, den sie auf deutsch ›den Herrlichen‹ nannten. Auf griechisch heißt er Kyrill. Der Wintersturm fegte mit Windstärken von bis zu 225 Kilometern in der Stunde durch Europa. Auch im Sauerland verwüstete er riesige Waldflächen. Am stärksten betroffen waren Flächen mit Fichten: Sie wachsen zwar schnell, wurzeln aber nur flach im Boden. Kyrill, der Killer, hatte leichtes Spiel.

Stefan Knippertz nahm sich einige Wochen nach dem Orkan zwei Rollen rot-gelbes Absperrband, jeweils 500 Meter lang, und schlug sich ins Dickicht. »Ich war der kleinste unter den Rangern, also wurde ich ausgeguckt, um zwischen den Baumstämmen durch zu kriechen und mit dem Band einen Pfad zu markieren«, erinnert er sich und muss grinsen.
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