Afscheid - de 3e etappe

VOR DER BOMBE RETTETE
AUSGERECHNET EIN LEBENSBAUM

›Schönster Friedhof der Welt‹, zu diesem Superlativ ließ sich ein holländischer Autor hinreißen. Vielleicht auch wegen dieser Geschichte: ein Friedhof, der Leben rettet. Das war am Ostersonntag 1945, einem der letzten Kriegstage. Die Kirche war vollbesetzt. Ein Flugzeug der Alliierten warf eine 500 Kilogramm schwere Bombe über Wormbach ab. Sie traf einen kräftigen Baum, dessen Geäst die Bombe abfederte und abfälschte. Sie landete in der weichen Erde zwischen zwei Gräbern, ohne zu explodieren. Vor der tödlichen Bombe rettete ausgerechnet ein Lebensbaum. Auch er hat überlebt. Die Kriegsverletzung macht er heute mit gleich drei Spitzen wett.

Johannes Tigges ist als Junge jeden Tag über den Friedhof gegangen, der auf dem Weg zur Schule lag. Ende der Fünfziger Jahre erregten hohe Gerüste in der Kirche seine Neugier. Maler und Künstler hantierten unter dem Kreuzgewölbe. Eines Tages winkten sie ihm, er durft e hochklettern. Er wurde Zeuge, wie mit feinen Spachteln 14 Schichten von Kalkfarbe abgetragen wurden. Darunter kam das Symbol der Waage zum Vorschein. Ein magischer Akt. »Damals hat mich diese Kirche gepackt«, erinnert sich der heute 70-Jährige. Sie hat ihn nicht wieder losgelassen. Seit 20 Jahren führt er Gruppen in die Kirche St. Peter und Paul von Wormbach, den eigentlichen Kraftort, und gibt wahre Geschichten und amüsante Vertellekes zum Besten.

»Wollen wir uns duzen?« schlägt er vor, auf dem Dorf sei das so. Er setzt sich auf der ›Männerseite‹ in eine der vorderen Bänke und legt los. Erwiesen sei, dass die jetzige Kirche um 1250 gebaut wurde. Spätromanischer Baustil, erdfarbene Ausmalungen. Es habe aber viel ältere Vorgänger am gleichen Platz gegeben. Und schon führt die Spur auf unsicheres Terrain: Stand in Wormbach die Urkirche des Sauerlandes? Ein Holzbau? Errichtet durch den Missionar Bonifatius im achten Jahrhundert? War Wormbach in den vielen Jahrhunderten davor ein keltischer Kultort? Letzteres hält Johannes für wahrscheinlich: »Damals war das Motto der Missionare: Baut die Kirchen auf die Kultstätten der Germanen.« Schlauer Schachzug, heidnische Plätze christlich umzudeuten und deren Kraft weiter zu nutzen.

Seit dem Erlebnis auf dem Malergerüst faszinieren Johannes die zwölf Tierkreissymbole unterm Kreuzgewölbe. Er vermutet einen Einfluss der Benediktiner aus dem nahen Kloster Grafschaft . Zu deren Wissensschatz gehörten astronomische Kenntnisse. Vielleicht haben sie in Wormbach sogar selbst den Pinsel geführt. Die Sternenbilder scheinen eine Botschaft zu verkünden. Sie sind auf eine Weise angeordnet, die Forscher vermuten lässt, es handle sich um eine Art Kalender. Mithilfe des Sonnenstandes und des Lichteinfalls durch die Fenster habe man das Datum des wichtigsten christlichen Festes, Ostern als beweglichen Feiertag, ablesen können. Johannes liebt es, seine Zuhörer mit spannenden Geschichten zu fesseln. Auch mit jener, Schmallenberg-Wormbach könne Teil einer vorchristlichen Sternenwarte gewesen sein, ähnlich wie das Monument im englischen Stonehenge.

Tatsache ist, dass die Kirche am Kreuzpunkt wichtiger Wege lag. Auf den so genannten Totenwegen wurden Leichname teilweise über viele Kilometer transportiert, um sie in Wormbacher Erde zu begraben. Auf der Heidenstraße, die von Köln bis Kassel führte, drangen die christlichen Bekehrer ins Germanengebiet vor. Heute ziert die gelbe Muschel auf blauem Grund weite Strecken dieser Route, Symbol für den Jakobsweg. Wieder so eine Umwidmung.

KULTSTÄTTE, KREUZUNGSPUNKT, KULTURGUT
– UND DESHALB HEUTE KRAFTORT

Was ist dran an all den Spekulationen und Rätseln? Johannes meint: »Für mich ist erwiesen, dass Wormbach schon in vorchristlicher Zeit ein ganz wichtiger Platz war.« Kultstätte, Kreuzungspunkt, Kulturgut – und deshalb heute Seelenort.

Bauer Johannes, wie er im Dorf genannt wird, ist kein Bauer. Als ältester Sohn war er zwar als Hoferbe bestimmt, machte die Ausbildung als Landwirtschaftsmeister. Doch mit 23 Jahren durchkreuzte ein schwerer Unfall den vorgezeichneten Lebensplan. Er lag sechs Tage im Koma. Als er aufwachte, prophezeiten ihm die Ärzte, er werde den Rollstuhl nie verlassen können. Mit eisernem Willen trainierte er mit Krücken. Ließ irgendwann die eine weg, dann beide, lernte mit orthopädischen Schuhen zu laufen. Statt Bauer wurde er Kaufmann, später Gastronom, er baute den elterlichen Hof zu einem Familienhotel um. Sein Gesicht ist wettergegerbt, er ist viel draußen unterwegs. Zu jeder Jahreszeit führt er Gäste über Friedhof, Totenwege, Pilgerpfade, lässt Geschichte lebendig werden, setzt Pointen, spinnt Erzählfäden. Die australischen Aborigines singen ihr Land, wenn sie auf Walkabout gehen; Johannes erzählt sein Land und geht auf Talkabout. Seine kräftigen Hände und Arme weisen ihn als einen aus, der anpacken kann. Gleichzeitig ist er weich und berührbar. »Heute habe ich nah am Wasser gebaut«, sagt er, ein Hofteil, an dem er sehr hing, werde abgerissen. Er lässt die Tränen laufen. Ein echter Menschenmensch.

Er berichtet mir von einem spirituellen Erlebnis, das er kürzlich in der Kirche hatte. »Mit vier anderen habe ich mich spätabends in eine der Bänke gesetzt. Bis auf das Ewige Licht war es stockdunkel. Wir hatten verabredet, eine halbe Stunde lang nicht das kleinste Geräusch von uns zu geben.« Er staunt noch heute, was dann geschah. Allmählich schälten sich die Konturen der Pfeiler und Gewölbe aus der Schwärze, »die Kirche wurde hell in der Dunkelheit.« Er dachte während der stillen Meditation an jene Zeiten, als es noch keine Bänke gab und die Gläubigen stehen mussten. Die Messe wurde auf Latein gehalten, was keiner der Dörfler verstand. »Deshalb waren die Bilder an den Wänden und oben unter der Decke für die Leute total wichtig.«

Bei einer Veranstaltung des Spirituellen Sommers kamen in der Kirche neben Christen auch Buddhisten, Juden, Hinduisten und Muslime zusammen. Sie sprachen über die Bedeutung des Lichts in ihrer jeweiligen Religion. »Das waren wundervoll einträchtige Momente, ich fand das stark.« Ungewöhnliche Worte von einem, der sich selbst als Konservativen sieht. Auch ihn erlebe ich als einen dieser toleranten, einladenden Begleiter, die Kraftorte zum Leuchten bringen. Und noch eine Erkenntnis nehme ich mit, als ich Wormbach verlasse: Es braucht zwar Hintergrundwissen, um einen solchen Ort zu verstehen. Aber es darf auch etwas offen bleiben. Ein paar Geheimisse. Das lässt der Fantasie Raum zum Spielen.

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